Zusammen mit dem alpinistischen Teil unserer Reise kam auch das gute Wetter zurück. Die Paddel wurden gegen Eispickel, die Trockenanzüge gegen Hardshelljacken und die Kajakschuhe gegen Bergschuhe ausgetauscht. Zehn Tage waren wir in einem abgelegeneren Teil Patagoniens unterwegs, auf der Rückseite der Touristenmagnete Fitz Roy und Cerro Torre…
Ankunft in El Chaltén
Nach vier Nächten in El Calafate erreichten wir schließlich El Chaltén, den Ausgangspunkt für Fitz Roy, Cerro Torre, das Südliche Patagonische Eisfeld und viele weitere spektakuläre Touren in Patagonien.
Jetzt kam mein Part unserer Reise, das Bergsteigen. Ziel war das Inlandeisfeld, die größte zusammenhängende Eismasse der Welt – abgesehen von den Polen und Grönland. Ich war letztes Jahr schon mit Udo auf dieser Route unterwegs: über das Valle Eléctrico aufs Eisfeld, weiter zum beeindruckenden Circo de los Altares und über den Paso del Viento zurück nach El Chaltén. Udo und ich waren mit Skiern unterwegs, dieses Jahr sollten Schneeschuhen zum Einsatz kommen.
Und, ja, da blutet das Skifahrerherz. Nach beinahe 4 Jahrzehnten auf den Skiern entschied ich mich nur sehr widerwillig dafür, „Raquetas“ zu verwenden. Zum einen verhält sich das Schneeschuhgehen zum Skifahren bekanntermaßen wie SUP zu Kitesurfing, wie Rampur Indian Single Malt zu Lagavulin oder wie die Skihalle Scheveningen zum Arlberg. Andererseits muss ich dieses Jahr aufgrund einer kleinen Reparaturarbeit an meinem Knie auf einen guten Teil der Skisaison verzichten, diese Skitour ohne Abfahrten hätte auch mit kaputtem Meniskus funktioniert…
Doch alles hat auch seine gute Seite: Schneeschuhe sind leichter als eine komplette Skiausrüstung und wenn sie am Rucksack befestigt sind, bieten sie dem Wind weniger Angriffsfläche – ein riesiger Vorteil in den Tälern zum und vom Inlandeisfeld.
Start zum Campo de Hielo Sur
So kauften wir in El Chaltén Verpflegung für knapp zwei Wochen ein, mixten Müsli, teilten Essen und Ausrüstung auf und packten unsere Rucksäcke. Nach diesem Vorbereitungstag starteten wir. Mit dem Taxi ging es zur Puente Río Eléctrico und ab dort zu Fuß hinein ins Valle Eléctrico, immer Richtung Gletscher und Berge. Als erstes Camp wählten wir die „Playita“ – eine einigermaßen windgeschützte Stelle am hinteren Ende des schönen Lago Eléctrico. Der Weg dorthin war landschaftlich schön und nicht allzu schwierig, doch den 38 kg schweren Rucksack legte ich am Ende des Tages gerne ab. Im Vergleich zum Vorjahr war es ein recht entspannter Tag. Damals eierte ich mit 42 kg am Rücken und von den Windböen hin und her geschoben durch die Landschaft. Die Skier und der große „Trineo“ (Gepäckschlitten) waren ein perfektes aber eher hinderliches Segel.
Als wir nach einer windigen Nacht aus dem Zelt schauten, war alles weiß. El Niño macht sich dieses Jahr stark bemerkbar. Letztes Jahr – und da waren wir genau einen Monat früher unterwegs – lag deutlich weniger Schnee.
Das schöne Weiß störte uns wenig, wir packten, machten uns bei leichtem Schneefall auf den Weg zur Tirolesa – dem Stahlseil über den Fluss zwischen Laguna Marconi und Lago Eléctrico – weiter zur Laguna de los 14 und dem Inlandeisfeld. Ziel war das Refugio Eduardo García Soto oberhalb des Paso Marconi.
Doch die Pläne änderten sich und so entstand kurz nach Mittag ein Camp oberhalb der Laguna de los 14 mit einem phänomenalen Blick auf den kleinen See mit Fitz Roy im Hintergrund.
Refugio Eduardo García Soto
Tag Nummer 3 brachte uns dann zum Refugio, das einsam und allein am Rande des Campo de Hielo Sur auf chilenischem Staatsgebiet steht. Eigentlich dürften wir hier gar nicht sein. Während Corona wurde dieser Grenzübergang geschlossen und die argentinisch-chilenische Politik hat es bislang verabsäumt, ihn wieder zu öffnen. Da es aber weder chilenische Carabineros noch sonst irgendwelche Offiziellen in der Gegend gab und uns unsere Route ja bald wieder nach Argentinien führte, wagten wir den illegalen Grenzübertritt – wie auch andere Gruppen, die hier unterwegs waren. Sogar die Gendarmería in El Chaltén sagte uns, dass es zwar nicht erlaubt sei, über diesen Weg aufzusteigen, aber es gebe Leute, die es trotzdem machten. Sie verboten uns nicht ausdrücklich, unsere Tour anzugehen, erwähnten aber, dass es Probleme geben könnte, falls denn chilenische Carabineros an der Grenze unterwegs wären.
So waren wir am Abend des dritten Tags im recht komfortablen aber unbewirteten Refugio, und weil für den nächsten Tag Windböen bis 100 km/h vorhergesagt waren, verlängerten wir unseren Aufenthalt um eine weitere Nacht. Der zweite Abend schenkte uns einen spektakulären Sonnenuntergang mit rot leuchtenden Wolken über Fitz Roy, Gorra Blanca und der riesigen Eiswüste unter uns.
Der Circo de los Altares
Der Circo de los Altares ist ein Gletscherbecken, das von den Gipfeln Adela, Cerro Torre mit seinen Nebengipfeln Torre Egger, Punta Heron, Cerro Standhardt sowie dem Cerro Domo Blanco und Cerro Ricón umgeben ist. Der Fitz Roy – oder Cerro Chaltén – ist in der zweiten Reihe zu finden. Die genannten Berge gehören zu den eindrücklichsten, wildesten und schwierigsten Gipfel unseres Planeten, entsprechend überwältigend sind das Panorama und die Stimmung an diesem Ort. Abgesehen von wenigen Trekkinggruppen mit Bergführern und Bergsteigern mit großen Zielen ist hier niemand anzutreffen. Meist bläst ein Wind, an Schlechtwettertagen kann er zu Sturm mit Spitzen von weit über 100 km/h anwachsen. Von den Hängegletschern dieser Berge donnern immer wieder Lawinen auf den darunterliegenden Gletscher, der Anblick der über 1.000 Meter hohen senkrechten Granitwände lässt das Klettererherz schneller schlagen und der klare Nachthimmel über dieser Kulisse ist gigantisch.
Und eben dieser magische Platz war das Hauptziel unseres Trips auf dem Inlandeis.
Die 16 Kilometer vom Refugio hierher brachten wir schnell hinter uns, unsere zu Trineos umgebauten Kinderschlitten verrichteten ihren Dienst hervorragend und entlasteten Schultern und Becken. Das Wetter war auf unserer Seite und so verbrachten wir zwei Nächte in unserem Camp am Fuße des Cerro Torre.
Nunatak Witte und zurück nach El Chaltén
Um einen anderen Blick auf das Inlandeis und die Berge an dessen östlichen Rand zu haben, wählten wir den Nunatak Witte als unseren nächstes Ziel. Wir querten 10 Kilometer über das Eisfeld und kamen am Fuße des kleinen, von Gletschern umgebenen Berges an. Nach dem Zeltaufbau und einem entspannten, sonnigen Nachmittag machten wir uns auf den Weg zum ca. 1.700 m hohen Gipfel. Dieser war nicht besonders technisch oder lang, aber in der patagonischen Abendsonne und bei bestem Wetter eine großartige Wanderung. Mit dem Cerro Francisco Moreno (3.536 m) im Westen, dem Cerro Torre (3.128 m) und dem Cerro Chaltén (Fitz Roy, 3.406 m) im Osten sowie dem Volcán Lautaro (3.623 m) am nördlichen Horizont darf man den Nunatak Witte wohl nur als Hügel bezeichnen. Dennoch ist er schön und gerade für Lars und mich besonders, denn es war unser erster gemeinsamer Gipfel – bei unserem dritten Projekt in Patagonien.
Im Abstieg genossen wir die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Der gute Ausblick über das Eisfeld ermöglichte es, einen guten Weg für den kommenden Tag zu finden, zwischen den Spalten des nach Süden hin recht zerklüfteten Glaciar Viedma.
Tags darauf bauten wir unser Camp ab und verabschiedeten uns vom Nunatak Witte, dem Circo de los Altares und dem Südlichen Patagonischen Eisfeld. Gegen Mittag kamen wir am Gletscherrand an, schnallten die Schneeschuhe und unsere Kinderschlitten wieder auf den Rucksack und gingen zur Laguna Ferrari, wo unser nächstes Camp entstand.
Am neunten Tag führte uns der Weg über den Paso del Viento, der seinem Namen diesmal keine Ehre machte. Es war beinahe windstill. Nach der Querung der Gletscherzunge des Glaciar Río Túnel und einer weiteren Tirolesa kamen wir am Camp Laguna Toro an und richteten uns für die letzte Zeltnacht unserer Tour ein.
Wir hatten bislang neun Tage ohne nennenswerte Niederschläge und vergleichsweise wenig Wind – nun musste der letzte Tag natürlich Regen bringen. Regen oder Schnee sind ein wichtiger Bestandteil Patagoniens und glücklicherweise konnten wir diese Erfahrung auch noch machen.
Auf dem Rückweg nach El Chaltén – und vor allem beim letzten 450-Höhenmeter-Aufstieg – war mein Tempo deutlich langsamer als gewohnt. Ich gab meiner Erkältung die Schuld, die ich seit ein paar Tagen mit mir rumschleppte. Das mag mit ein Grund gewesen sein, die eigentliche Ursache fand ich aber später heraus: Das bisschen Essen und Gas, das wir in den letzten 9 Tagen aus meinem Rucksack verbraucht hatten war zu wenig, um das durchnässte Zelt zu kompensieren. Beim Auto angekommen hatte mein Rucksack ein Gewicht von 37,5 kg, fast wie beim Start unserer Runde. Auch gut, denn so ist der Trainingseffekt größer. In El Chaltén musste erstmal auf die erfolgreiche Tour angestoßen werden. Das argentinische Abendessen war eine willkommene Abwechslung zu den Nudeln, Risottos, Nüssen und Müsliriegeln der letzten Tage. Die Planung der nächsten Zeit wollten wir am kommenden Tag angehen. Ich hatte ja noch zwei Wochen bis zu meinem Flug nach Buenos Aires, ausreichend Zeit für eine anständige Kajaktour.
Mein Fazit zur Tour auf dem Inlandeis
Wir hatten ein Riesenglück mit dem Wetter. So ein Wetterfenster mit mehr als 10 Tage ohne wesentlichen Niederschlag und mit nur kurzen windigen Phasen ist für Patagonien eher ungewöhnlich. Nach unserer Erfahrung am Lago San Martín trauten wir uns gar nicht, auf so viel Glück zu hoffen.
Alle von uns gesetzten Ziele konnten wir erreichen, die eine oder andere Verzögerung nahmen wir gerne in Kauf, denn gerade an diesen Tagen präsentierten sich die Berge und das Eisfeld von ihrer schönsten Seite.
Die Zeit im Refugio und am Circo de los Altares war auch auf einer anderen Ebene toll. Unter anderem trafen wir die geführte Gruppe um den Bergführer Jimmi mit den Co-Guides und Trägern Matias und Tomás, ein fleißiges holländisches Skitouren-Paar und den stillen Chilenen Camilo, der sich aus Mangel an Kletterpartnern solo am Cerro Torre versuchen wollte (am Elmo musste er aufgrund der zu warmen Bedingungen umdrehen und ist dann gut wieder ins Tal gekommen).
Wir hatten interessante und amüsante Unterhaltungen und dabei viel über Patagonien, die Gipfel um El Chaltén, das Leben im Süden des Kontinents und alternative Lebenskonzepte erfahren.
Die Berge sind ein Ort der Begegnung, der ähnlich denkende Menschen zusammenführt und für einen natürlichen Austausch sorgt, den es so im geschäftigen Tal nicht geben kann [frei nach William Blake, zumindest ein bisschen 😉].
Auf unserer Tour gab es keine Dramen, keine groben Rückschläge, kein Leiden und keine gefährlichen Situationen. Wir haben keine neue Kletterroute eröffnet und sind auch nicht auf einem anspruchsvollen patagonischen Gipfel gestanden.
Es gibt definitiv nicht genug Stoff, um ein Buch zu füllen, aber mit den landschaftlichen Eindrücken und den so positiven und befriedigenden Gefühlen von Freiheit, Unabhängigkeit und Nähe zur Natur lassen sich die eigenen, internen Speicher weiter befüllen. Und das bleibt fürs restliche Leben und verbleicht nur sehr sehr langsam.
Hier kann ich nur versuchen, ein paar dieser Eindrücke zu vermitteln, vielleicht gelingt es mit den Bildern als mit Worten. Doch natürlich kann auf Fotos die Faszination dieser Gegend nur unzureichend dargestellt werden, da muss man schon selbst hin…